„Ich habe beschlossen, mich nicht von der Angst treiben zu lassen, von der Leute wie Du politisch leben – die ihr den Menschen nehmt wie die Grauen Herren in „Momo“ die Zeit; ihr dreht Euch aus den Angstblüten Zigarren und saugt daran. Ohne Angst werdet Ihr Euch auflösen wie die grauen Herren in Nichts.“ (aus einem offenen Brief eines ehemaligen Studienkollegen an Marcus Pretzell, Landesvorsitzender der AfD in NRW)
Ca. 5500 Geflüchtete leben in Flüchtlingsheimen in Charlottenburg-Wilmersdorf, dazu 300 unbegleitete Minderjährige und eine unbekannte Anzahl in Wohnungen oder Hostels – es ist eine Aufgabe – aber auch eine Aufgabe, vor der wir keine Angst haben müssen, die wir mit über 300.000 Einwohnern bewältigen können.
Es sind jetzt schon vielfältige Angebote, die den Menschen von ungezählten Freiwilligen gemacht werden. Ehrenamtliche überbrücken die quälenden Monate der Warterei auf einen Schulplatz und bringen Jugendlichen, die als Flüchtlinge nie zur Schule gehen durften das Alphabet bei. In Deutschkursen entwickeln sich Freundschaften, Freiwillige spielen mit Kindern oder helfen mit den Hausaufgaben. Es gibt Nähsalons, Fahrradwerkstätten, Beratung über die richtige Schulform, Begleitung zum Arzt . Über viele Unterkünfte hinweg hat sich ein Eventteam gebildet, das Museumsbesuche oder Konzerte organisiert. Jeden Sonntag um 14 Uhr treffen sich Familien aus drei unterschiedlichen Konfessionen und gehen gemeinsam mit Geflüchteten und unbegleiteten Minderjährigen in eine katholische Grundschule. Dort wird gespielt, gelacht, geredet – nicht selten sind das inzwischen 80 Menschen – und es entwickeln sich Freundschaften. Andere helfen Wohnungen oder Familienanschluss zu suchen – inzwischen gibt es viele frei gewordene Kinderzimmer in Westend, in die geflüchtete Menschen eingezogen sind.
Überall sind Freiwillige in engem Kontakt zu den Betreibern der Unterkünfte – manchmal freundschaftlich, manchmal auch sehr kritisch. Durch Verbindungen zu anderen Initiativen in Berlin können wir oft schnell herausfinden, ob das Problem, mit dem wir uns gerade herumschlagen ein Einzelfall ist, oder ob da strukturelle Defizite dahinterstecken. Inzwischen kennen wir viele derjenigen, die Verantwortung tragen – und können deshalb die strukturellen Probleme ansprechen.
Es geht längst nicht mehr nur darum, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu geben. Deshalb suchen wir als Freiwilligeninitiativen im Bezirk Verbündete. Es gibt unterdessen einen runden Tisch aller Initiativen gemeinsam mit Mitarbeitern des Bezirksamtes. Es fanden Zukunftstage im Bezirk statt, aus dem sich Arbeitsgruppen gebildet haben – so zum Beispiel zum Thema Arbeitsmarktintegration quer über Behördengrenzen und Initiativen hinweg. Aber es gibt noch viele ungelöste Fragen, die uns oft auch ungeduldig machen – die monatelange Unterbringung in Turnhallen auf Feldbetten, schlechte oder fehlende medizinische Versorgung, fehlende Schulplätze, noch immer Probleme beim LaGeSo oder Übergriffe der Security-Mitarbeiter… Und die Verschärfung der Asylgesetze hat die Aufgabe nicht leichter gemacht.
Dann lässt uns auch nicht los, was ausserhalb von Deutschland passiert. Europa schützt seine Aussengrenzen. Vor wem eigentlich? Das sind unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder im Schlauchboot, vor denen wir uns da schützen. In der Türkei leben jetzt schon 3 Mio Syrer und jetzt schützt auch sie sich – und baut eine Mauer an der Grenze zu Syrien, wie wir sie aus Deutschland kennen. Auch der Schießbefehl, der dort gilt, ist uns vertraut in Deutschland. Wir nennen es Schutz der Aussengrenzen – in Wahrheit sperren wir die Menschen in einem Krieg ein, in dem das Leben eines Einzelnen nichts zählt.. Wir sehen die Bilder aus Idomeni, sind erschüttert und ändern nichts. Die Bilder aus den Lagern in Syrien an der Grenze zur Türkei und zu Jordanien sehen wir nicht. Dort sind im Moment tausende von Menschen zwischen Grenze und Fronten gefangen und die Versorgungslage ist katastrophal. Mit Humanität, Menschenrechten oder den Werten des Abendlandes hat die europäische Flüchtlingspolitik nichts mehr zu tun.
Aber zurück nach Charlottenburg Wilmersdorf.
Was erlebt man als Helfer, was sind das für Menschen, die da gekommen sind?
Zum einen natürlich – nur weil man Flüchtling ist, aus seiner Heimat vertrieben wurde, wachsen einem keine Engelsflügel. Es gibt Gauner darunter, Menschen die klauen, die gekommen sind um Drogen zu verticken oder anderes. Ja, die gibt es und da müssen wir auch klare Grenzen aufzeigen. Andererseits: nur weil sie Flüchtlinge sind, wachsen den Menschen aber auch keine Teufelshörner – die Anzahl der Gauner und Betrüger ist nicht höher als in unserer Bevölkerung auch. Flüchtlinge sind ganz normale Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensgeschichten, Hintergründen, Bildungsständen – sie haben nur eines gemeinsam: Sie müssen gegen das Heimweh ankämpfen und in einem fremden Land ganz von Neuem anfangen. Ich bewundere immer wieder, mit welcher Selbstdisziplin sie die Bedingungen ertragen, unter denen sie in unseren Turnhallen und Hangars zum Teil seit Monaten leben.
Manchmal versetze ich mich in ihre Lage und stelle mir vor, dass ich in einer solchen Turnhalle leben muss mit 200 anderen, wild zusammengewürfelt aus der ganzen Bundesrepublik. – Wir sind uns fremd und gehen uns auf die Nerven, keiner hat etwas zu tun, niemand weiß, wie lange wir in der Halle sind und ob wir überhaupt in Deutschland bleiben dürfen. – Es gibt keinen Platz, wo ich nachts oder beim Duschen mein Portemonnaie oder Handy lassen kann und ich kann einfach nicht schlafen bei den vielen schnarchenden Männer und schreienden Babies in der Halle – würde ich mich nach 3 Monaten immer noch geduldig in einer Schlange anstellen, um das in Plastik verpackte Flugzeugessen abzuholen ohne auszurasten?
Die meisten sind Deutschland unendlich dankbar, Angela Merkel wird verehrt. Viele sind ganz starke Menschen – sie sind die, die aufgebrochen sind und es trotz aller Widrigkeiten bis hierher geschafft haben. Trotzdem ist der Anfang schwer: Die fremde Stadt macht Angst, Deutsch ist so schwierig zu lernen, das Heimweh nagt, die Angst um zurückgebliebene Familienangehörige, Trauer um die, die man verloren hat, Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse und dieses furchtbare Nichtstun , nichts geht vorwärts, nichts kann man beeinflussen, eine vollkommen undurchschaubare Bürokratiemaschine entscheidet über das Schicksal und niemand weiß wann. Und dann die Erkenntnis, dass Deutschland nicht das Paradies ist, dass es auch hier Obdachlose gibt, dass Wohnungen schwer zu finden sind und es Jahre dauern kann, bis man wieder als Fliesenleger arbeiten kann. Flüchtling sein ist sehr hart.
1945 war meine Großmutter mit ihren Kindern Flüchtling in Deutschland. Eine niedersächsische Familie rückte zusammen, als sie vor der Tür standen und gaben ihr ein Zimmer. Der Feldblumenstrauss, den sie dann auch noch in einem Marmeladenglas auf den Tisch stellten, spielt noch heute in meiner Familie eine große Rolle. Ein Strauss mit Feldblumen mitten in dem Scherbenhaufen eines Lebens, ein Lächeln, ein Konzert, eine geteilte Tafel Schokolade oder nur das gemeinsame Lachen über missglückte Zeichensprache.
Das ist das, was die Arbeit der Flüchtlingshelfer so wertvoll macht. Es ist eines, alle Ankömmlinge effizient mit Kleidung oder Essen zu versorgen. – Mindestens ebenso wichtig sind diese kleinen Zeichen der Menschlichkeit, sie geben Würde zurück und machen deshalb einen so großen Unterschied.
In der vergangenen Woche habe ich einfach mal bei Willkommen im Westend nachgefragt „ Was erleben diejenigen, die sich engagieren? Wie verändert sich das Leben für Euch, aber auch in der Nachbarschaft?“
Fast alle Mails begannen mit der gleichen Einleitung: Eigentlich bin ich ja nicht typisch, ich kümmere mich ja nur um eine Familie – oder wir gehen ja nur einmal in der Woche in die Kleiderkammer – oder ich gebe nur Nachhilfe in der Schule. Anscheinend ist genau das typisch: es gibt keine Regel, jeder wird aktiv an einem anderen Platz, in einer anderen Rolle und jeder muss gar nichts und ganz sicher nur das, was ihm liegt.
„Meine Mutter, fast 80 Jahre, kümmert sich ebenso um die syrische Familie, wie meine eigene Familie. Sie ist immer dabei. Für sie ist es der erste Kontakt zu Muslimen und zum Islam. Sie ist interessiert und glücklich dabei. Sie erzählt aber auch, wie die Menschen in ihrer kirchlichen Runde skeptisch sind und durchaus nicht immer christlich zum Thema diskutieren und wie viel Kraft sie aufwendet, gegen Vorurteile zu arbeiten.“
„Unser Tätigsein als Deutschlehrer für Erwachsene und die Kinder bereichert unser Leben, obwohl wir auch vorher gut ausgelastet waren mit Beruflichem, Freunden, Familie usw.“
„Die Begegnungen mit den Menschen, sie ein kleines Stück ihres Weges begleiten zu können und dabei durchaus Entwicklungen zu sehen, erfüllt uns immer wieder mit Freude und auch Respekt für die Asylsuchenden. Durch positive Rückmeldungen werden wir auch durchaus entlohnt!“
„Ich glaube, dass ich ohne Erwartungen einfach „da reingeschlittert“ bin. Zurück kam ein Lächeln, eine Umarmung, eine Berührung, ein DANKE, eine Mahlzeit, ein Besuch, eine Einladung, Tränen der Freude und des Leids. Es lohnt sich, Herz und Geist und Türen zu öffnen. Niemand sollte sich um die Chance bringen, einen wundervollen Menschen kennen zu lernen – egal in welcher Gestalt und mit welchem Dokument in der Hand er daher kommen mag“.
Genauso geht es mir persönlich. Auch für mich ist die Begegnung mit vielen geflüchteten Menschen eine Bereicherung. Ich reise eigentlich gerne weil ich fremde Kulturen spannend finde – aber wie schwierig ist es manchmal wirklich in Kontakt zu kommen auf den Reisen und mehr zu sehen als den Postkartenblick auf das Gastland. Und jetzt muss ich nicht mehr reisen, jetzt finden die Begegnungen an meinem Küchentisch statt. Wie viel lerne ich nicht nur über fremde – sondern auch über unsere eigene Kultur, wenn ich mit Christen, Drusen und Muslimen zusammensitze und die jeweiligen Vorstellungen vom Paradies diskutiere oder höchst skeptischen Blicken begegne, wenn ich ihnen erkläre, warum wir Himmelfahrt feiern „Das glaubt ihr wirklich, er ist seinen Anhängern als Person erschienen, obwohl er tot war?“
Und dann immer wieder dieses elementare Gefühl der Verbundenheit über die Grenzen der Kultur, Religion und Lebenswelt hinweg. „Du redest genauso wie meine Mutter.“ Wie verbunden fühle ich mich in dem Moment dieser wildfremden Mutter 2000 km von hier, wie stark ist plötzlich dieser Wunsch, dass auch meine Kinder, wenn sie sich einmal in einer ausweglosen Situation finden, jemandem begegnen, der sie anschaut und ihnen weiterhilft – wie eine Mutter. Wie stark fühle ich die Trauer dieser Frau, ihren aufgeweckten, sympathischen, fröhlichen Sohn nicht mehr sehen zu dürfen – das Mindeste, was ich für sie tun kann ist, ihm zu helfen auf die Füsse zu kommen.
Viele fühlen sich durch die Begegnungen mit den Geflüchteten bereichert. Irgendwie war da in den letzten Jahren eine Leere entstanden, wir sind überall hin gereist, haben uns satt gekauft – und jetzt ist hier plötzlich eine Situation, in der wir als Menschen gefragt sind, es geht darum ganz elementare Humanität zu zeigen. Das ist wie eine Befreiung, eine Rückkehr zu dem, was wirklich zählt. Natürlich haben sich manche aufgerieben in den letzten Monaten, die Situation vor dem LaGeSo war auch zum Verzweifeln. Aber die meisten machen ihre selbstgewählten Aufgaben auch glücklich, es hat einen Sinn, was man tut und die Arbeit trägt ihren Lohn in sich.
Nicht nur zu den Geflüchteten entstehen Freundschaften. Für mich als Neuberlinerin war das letzte Jahr eine Integrationsmaßnahme der eigenen Art. Wie viele neue Nachbarn habe ich kennengelernt, was für bunte Truppen sind entstanden aus Alt und Jung, evangelisch, katholisch, jüdisch oder atheistisch, Professoren, Künstlern oder Langzeitarbeitslosen. Es ist so schön, wenn man sich so begegnet und die Herkunft nicht wichtig ist. Das einzige, was wirklich zählt, ist die Frage danach ist, ob man das Herz auf dem rechten Fleck hat – was für eine tolle Art, Menschen kennenzulernen.
Deshalb glaube ich auch, dass das, was von anderen als „Gutmenschentum“ abgetan wird eigentlich eine große Chance ist. Vielleicht gelingt es uns, etwas von dem in die Zukunft zu retten, was da gerade um uns entsteht: Menschen, die ihre Wärme und Herzlichkeit wiederentdecken, Behördenmitarbeiter, denen es jenseits der eigenen Zuständigkeit darum geht, einfach ein Problem zu lösen, eine Zivilgesellschaft, die entdeckt, wie stark sie eigentlich ist. Und auch eine Kirche, die für Menschlichkeit eintritt und damit vielleicht in der Gesellschaft eine neue Rolle einnimmt und nicht nur von mir anders wahrgenommen wird als noch vor 2 Jahren.
Am Ende kann Integration nur gelingen, wenn jeder von uns „seinen Flüchtling“ kennt – am Arbeitsplatz, im Sportverein, in der Nachbarschaft. Wenn aus der Flüchtlingsflut einzelne Gesichter geworden sind, gibt es keinen Raum mehr für die unbestimmten Ängste, die es AfD & Co zur Zeit so leicht machen auf Stimmenfang zu gehen.
Lassen Sie uns die „Flüchtlingskrise“ als Chance nehmen wieder Wärme und Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft Platz zu geben. Davon werden nicht nur diejenigen profitieren, die gerade neu angekommen sind, sondern auch diejenigen, die mitten unter uns leben, sich aber schon lange abgehängt fühlen und nicht zuletzt auch wir selbst.
Teile dieses Textes wurden geschrieben für einen Focus-Gottesdienst in der Charlottenburger Luisengemeinde am 20.03.2016