Lieber Tagesspiegel, BZ, Bild, FAZ, ARD, ZDF, RTL… Liebe Journalist*innen und Liebe Politiker*innen
Seit Wochen schreiben und reden Sie von Flüchtlingsfluten, Menschenströmen, von erschöpften Ehrenamtlichen und dem überforderten Staat. Überall sehen Sie die Probleme und Schwierigkeiten und erheben mahnend den Zeigefinger „Die Stimmung kippt“.
Aus dem Blickwinkel einer Berliner Flüchtlingshelferin: Ja, Sie haben recht, die Stimmung kippt. Aber in eine ganz andere Richtung als Sie es schreiben. Als Anfang des Jahres in Berlin die ersten Menschen in Turnhallen untergebracht wurden, begann eine Emailflut an unsere Charlottenburger Willkommensinitiative. Anwohner wollten helfen, Deutsch unterrichten, luden zu Ausflügen. Jeder hatte eigene Motive, manche taten es aus christlicher oder humanitärer Überzeugung, andere in Erinnerung an friedensbewegte Zeiten oder eigene Fluchterfahrungen und immer wieder hörte man auch, das wäre das, was man als Einzelner tun könne, um gegen Pegida ein Zeichen zu setzen. Es waren junge aber auch viele alte, Familien – und sie kamen alle einzeln.
Die vielen Einzelnen kommen nach wie vor, kaum eröffnet an einer Stelle ein Flüchtlingsheim, stehen schon Nachbarn vor der Tür, die sich bisher noch nicht engagiert haben und fragen, wie sie helfen können. Längst gibt es Seiten im Internet, um diese enorme Hilfsbereitschaft zu kanalisieren – der Emailflut wäre sonst gar nicht mehr Herr zu werden.
Und trotzdem sind es nicht weniger Mails geworden, denn die Stimmung ist gekippt. Jetzt sind es nicht mehr Einzelne, die in Flüchtlingsheimen helfen wollen. Jetzt sind es viele, Gruppen, Firmen, Vereine, Schulen die fragen, was sie tun können, damit die Flüchtlinge die Heime verlassen und bei ihnen Anschluss finden können. Arbeitgeber fragen uns, wie sie ihre Ausbildungen verändern müssen, welche Praktika sinnvoll und erlaubt sind, damit Neuankömmlinge bei ihnen arbeiten können. Kirchengemeinden wollen wissen, wie sie ihre Türen öffnen und den Menschen Begegnungen anbieten können, Sportvereine klopfen an und fragen, wie sie die Menschen in den Notunterkünften erreichen und in ihre Trainingsstunden einladen können und sogar der Seniorenclub sucht nach geschickten Strickerinnen im Flüchtlingsheim. Wir sind nicht mehr nur bereit uns als Einzelne zu engagieren, auch unsere Institutionen wie Universitäten und Schulen, unsere Firmen und Vereine, Stadtteilzentren und Jugendclubs und sogar auch Teile unserer Verwaltung haben verstanden, dass das Flüchtlingsthema uns alle betrifft und Veränderungen erfordert.
Die vielen Flüchtlinge werden Deutschland verändern. Wichtig ist dabei aber nicht, dass man Hummus in mehr Lokalen auf der Speisekarte finden und man sich daran gewöhnen wird, dass in der Nähe mancher Kirche auch eine Moschee steht. Wichtig ist viel mehr, dass unsere ganze Gesellschaft in Bewegung gerät, hin zu mehr Offenheit und zu der Erkenntnis, dass der Einzelne Teil einer Zivilgesellschaft ist, die zählt, deren Beitrag notwendig ist, damit es gelingt.
Ich bin den vielen Flüchtlingen dankbar, sie bringen Bewegung in eine Gesellschaft, die zu erstarren drohte, wir sind dank Ihnen dabei unser Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat neu zu bestimmen. Entgegen dem Eindruck, den man bekommt, wenn man Ihre Zeitungen liest oder Ihre Fernsehberichte oder Reden verfolgt, entdecken wir in unserer Gesellschaft die Menschlichkeit neu und dass man als Einzelner einen Unterschied machen kann. – Die „Flüchtlingsströme“ haben eine Stimmung gekippt: Das Gefühl, es sei egal, was man tue, man könne ja doch nichts verändern.
Lassen Sie sich nicht länger von den Schwierigkeiten und möglichen Problemen hypnotisieren, sondern nehmen Sie diese positive Aufbruchstimmung wahr, die überall entsteht. Wenn wir die nicht kaputtreden, wird sie noch viele anstecken, die zur Zeit noch Angst vor Veränderungen und dem Fremden haben und sie wird alte Verkrustungen auflösen und uns besser gerüstet sein lassen für weitere Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Herzliche Grüße
Amei v. Hülsen-Poensgen (aktiv bei Willkommen im Westend in Berlin)